Zweckbündnisse

Zweckbündnisse

Angesichts beginnender kurdischer Staatlichkeit im unmittelbaren Grenzgebiet fürchtete die Türkei eine Stärkung der kurdischen Position in der Region. Und sie fürchtete das Modell Rojava, weil es ein Beispiel für eine föderale Türkei mit kurdischer Autonomie hätte sein können und somit die zentralstaatlich organisierte nationalistische Türkei in Frage stellen würde.

Die USA hatten bis 2015 kein Interesse an einer Unterstützung der syrischen Kurden, weil diese sich nicht im Kampf gegen die syrische Regierung instrumentalisieren ließen. Und die Regierung in Damaskus lehnte das föderale kurdische Autonomiemodell ab, weil damit das nationalistische Regierungssystem der Baath-Partei in Frage gestellt wird. Kurdistan, die autonome Provinz im Irak, die vom Stammesführer Barzani kontrolliert wird, boykottierte die Rojava, weil der herrschende Barzani-Clan mit seiner konservativen Ausrichtung kein Interesse an einem demokratischen Modell in seiner Nachbarschaft hatte.

Die syrischen Kurden stießen also mit ihren Autonomiebestrebungen sowohl innerhalb Syriens als auch international auf Widerstand. So wurde kritisiert, dass die Rojava in Nord-Syrien auch überwiegend nicht-kurdisch besiedelte Gebiete beanspruchte, was bei der arabisch-sunnitischen Mehrheit in dieser Region auf Widerstand stoßen würde. Die drei kurdischen Kantone wurden zudem nicht nur durch den IS, sondern vor allem durch die Türkei bedroht.

Die syrischen Kurden wurden als potentielle Verbündete für die USA erst mit der Schlacht von Kobane (arabisch: Ain al-Arab) im September 2014 interessant, in der die Kurden die Hauptlast bei der Abwehr des IS trugen und siegten. Nach der Schlacht von Kobane entstand die Organisation Syrische Demokratische Kräfte  (SDF). Die SDF ist ein Militärbündnis der kurdischen Volksverteidigungseinheiten, der sunnitischen Arabischen Armee der Revolutionäre (Tdscheisch at-Thuwwar), der sunnitisch-arabischen Stammesmiliz Quwat as-Sanadid (beides Verbände der Freien Syrischen Armee) und des assyrisch-aramäischen Militärrats der Suryoye. Das Bündnis wurde schließlich von westlichen und sunnitischen arabischen Staaten unterstützt, obwohl die kurdische YPG die Hauptkräfte stellte.

Die Volksverteidigungseinheiten (YPG) der syrischen Kurden sind der militärische Arm der Verwaltung in den von den Kurden beherrschten Gebieten. Die kurdische Partei PYD, die 2003 gegründet wurde und in enger Verbindung zur verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK stehen soll, wird von der türkischen Regierung, den USA und der EU als Terrororganisation eingestuft wird. Die Führung der YPG betonte daher immer ihre Unabhängigkeit sowohl von der PKK als auch von der syrischen Kurdenpartei PYD.

Die YPG-Milizen verfügten unterschiedlichen Quellen zufolge über 30.000 bis 50.000 aktive Kämpfer bei einem Anteil von ca. 35 Prozent Frauen (YPJ-Einheiten).

Flagge YPG

Flagge der YPG - Quelle Wikipedia

Flagge YPJ

Flagge der YPJ - Quelle Wikipedia

Die Kämpfer durchliefen eine dreimonatige Ausbildung in einem der neun Trainingslager und bekamen ein Monatssold von umgerechnet rund 120 Euro. Die YPG-Einheiten verfügten anfänglich vor allem über leichte Waffen. Finanziert wurde die Truppe mittels der in den Kantonen erhobenen Steuern sowie über ein Netzwerk von Spendern in Europa, der Türkei und anderen Ländern.

Die YPG wird als typische Guerillaarmee beschrieben, deren Kampfweise auf Geschwindigkeit, Verborgenheit und Überraschung beruht. Sie ist in die Lage, ihre Einheiten schnell an Gefechtsschwerpunkten zu dislozieren. Die Stoßrichtung ihrer Angriffe kann sie oft unbemerkt verlagern, um den Gegner zu umgehen und aus dem Hinterhalt anzugreifen. Als ein Merkmal dieser Kampfweise wird die Autonomie der einzelnen Verbände angesehen. Obwohl die Brigaden der YPG unter zentralen taktischen Vorgaben operierten, werde ihnen auch ein hoher Freiheitsgrad zuerkannt, um sich dem verändernden Kampfgeschehen anpassen zu können. Es ist das von modernen Armeen abgeschaute Modell der Auftragstaktik, das den jeweiligen Kommandeuren eine relativ hohe Entscheidungsfreiheit zur Erfüllung von Gefechtsaufgaben zubilligt. Trotz des anfänglichen Mangels an Waffen und Ausrüstung wurde die Truppe die zwar am wenigsten bekannte, aber größte, disziplinierteste und kampfstärkste Streitmacht unter den Rebellentruppen im syrischen Bürgerkrieg.

Eine Besonderheit der YPG sind ihre Frauenbataillone (YPJ). Etwa 10.000 Kämpferinnen sollen der Truppe angehören. Die Mehrheit der YPJ-Kämpferinnen ist nicht verheiratet, es soll aber auch kämpfende Mütter geben. Die kurdischen Frauen-einheiten waren bei den IS-Freischärlern gefürchtet, weil sie glauben, dass ein Kämpfer, der durch weibliche Hand stirbt, nicht in das Paradies kommt. Die Kämpferinnen gelten zudem als mutig und erbarmungslos.

Frauen in der Armee

Zwei Kämpferinnen der kurdischen YPJ (Quelle: facebook.com/YPG)

In einer besonderen Einheit der YPG mit der Bezeichnung Lions of Rojava (Löwen von Rojava) dienten ausländische Freiwillige, beispielsweise aus den USA und Großbritannien. Im August 2015 sollen es rund 150 Kämpfer gewesen sein.

Seit der Schlacht um Kobane wurden die von kurdischen Kämpfern dominierten SDF-Einheiten auch durch Angriffe der russischen Luftwaffe, der US-Koalition und durch Peschmerga-Kämpfer aus dem Irak unterstützt. Und ab 2016 lieferte Russland Waffen an die Truppe. Auch die Vereinigten Staaten unterstützten ihre Verbündeten nunmehr durch die Lieferung von Waffen und Ausrüstung. Nun bot sich für die Vereinigten Staaten die Möglichkeit, die kampferprobten SDF-Einheiten als temporäre Verbündete zu instrumentalisieren. Und für die Kurden schien die militärische Kooperation mit den USA eine Sicherheitsgarantie gegen Angriffe der Türkei zu sein. Man hoffte wohl, dass die Vereinigten Staaten den NATO-Partner davon abhalten würden, militärisch in Nord-Syrien einzugreifen. Diese Hoffnung wurde zerschlagen und die Kurden – wie so oft in ihrer Geschichte – verraten.

Mit dem türkischen Vormarsch im nordsyrischen Grenzgebiet kam es daher zu einer punktuellen Zusammenarbeit von SDF-Einheiten mit der syrischen Regierungsarmee.

Erst wenn der Krieg beendet und alle völkerrechtswidrig im Land stehenden fremden Truppen Syrien verlassen haben, wird sich entscheiden, welche politischen Rechte die syrischen Kurden in ihrem Land haben werden. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Der Westen in Gestalt der US-Regierung und der EU möchte den Konflikt am Köcheln halten und überzieht das Land nach wie vor mit Sanktionen. Bemühungen Russlands und der syrischen Regierung, die Rückkehr syrischer Flüchtlinge in ihre Heimat zu organisieren, werden mit politischen Maximalforderungen überfrachtet und torpediert. Bis zu einer Normalisierung des Lebens in Syrien und dem Beginn eines politischen Dialogs über die Zukunft des Landes bleibt so auch das Schicksal der syrischen Kurden ungewiss. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sie einen hohen politischen Preis für ihre Unabhängigkeitsbestrebungen werden zahlen müssen. Für die Türkei wäre ein solches Szenario von Vorteil.

Quellen:

Leukefeld, K.: Geopolitische Doppelmoral. Junge Welt, 20.11.2020

Leukefeld, K.: Zerstört und geplündert. Junge Welt, 20.11.2020

Rudolph, R., Markus, U.: Warum Syrien. Berlin 2016

 

 

von Redaktion (Kommentare: 0)

Zurück

Einen Kommentar schreiben