Türkische Angriffspläne in Syrien

Laut syrischen Medien und sozialen Netzwerken wurden in der Nacht zum 15. Oktober über der im Nordwesten Syriens gelegenen syrischen Stadt Tell Rifat (25 Kilometer nördlich von Aleppo) von türkischen Drohnen Flugblätter abgeworfen. Darin warnen Erdogans Krieger die Einwohner vor der bevorstehenden Säuberung der Stadt von kurdischen Militanten. In dieser unheilvollen Botschaft werden die Einheimischen aufgefordert, die türkischen Soldaten und Freiwilligen im Kampf in den Operationen „Olive Branch“ und „Euphrat Shield“ zu unterstützen. Ansonsten werde es keine Gnade geben.

Es ist kein Geheimnis, dass Ankara seine Stellvertreterkräfte in Syrien, vor allem die zahlreichen „Hayat Tahrir al-Sham-Banden“ unter Führung der Dschihadisten von „Jabhat al-Nusra“, voll ausnutzt und einsetzt. Der „Ruhm“ diese Militanten als Mörder und Vergewaltiger ist weltweit verbreitet. Die Kurden hassen diese Banditen heftig. Sogar westliche Journalisten nennen den Norden der „Sonderverwaltungszone“, wo sie im Auftrag Erdogans operieren, „die Idlib-Viper“.

In Tell Rifat befinden sich Einheiten der Kurdischen Volksverteidigungsarmee YPG (bewaffnete Formationen des Obersten Kurdischen Rates), Kämpfer der Befreiungsgruppe „Afrin“, Einheiten der Syrisch-Arabischen Armee (SAA) und Patrouillen der Russische Militärpolizei. Wenn Ankara nicht blufft, könnten bei der angekündigten Operation auch russische Soldaten getötet werden.

Offenbar ist Erdogan mit diesem Angriff auf Tell Rifat im Recht, denn der immer noch gültige, 1998 zwischen Syrien und der Türkei unterzeichnete „Adana-Vertrag“, gestattet türkische Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeiterpartei Kurdistans auf dem Territorium Syriens. Das Problem ist, dass auch Moskau mit dieser noch gültigen Vereinbarung, die zu einem echten Trojanischen Pferd geworden ist, rechnen muss. Der russische Präsident sagte am 14. Februar 2019, während eines bilateralen Treffens mit Erdogan: „Das Abkommen zwischen der Arabischen Republik Syrien und der Türkischen Republik von 1998, das sich mit dem Kampf gegen den Terrorismus der Kurden in Syrien befasst, ist immer noch in Kraft. Ich denke, das ist die Basis, die viele Fragen im Hinblick auf die Gewährleistung der Sicherheit der Türkei an ihren Südgrenzen erklärt. Heute haben wir dieses Thema ausreichend und aktiv diskutiert.“ Auch ein Zitat des russischen Außenministers Lawrow von vor zwei Jahren lässt sich hinzufügen: „Die Lage an der türkisch-syrischen Grenze entstand vor allem aufgrund der Entscheidung der USA, ihre Einheiten aus diesem Gebieten abzuziehen. Diese Situation erforderte natürlich sofortige Schritte, um dort ein Vakuum zu verhindern. Wir halten es für durchaus möglich, dass die Türkei dafür das Adana-Abkommen von 1998 nutzt.“

Damit entstand ein anderes Kräfteverhältnis im Norden Syriens und das Einrücken  der türkischen Truppen in den Norden der SAR wurde von Moskau als stabilisierende Maßnahme angesehen. Die Russische Föderation und die Türkei haben damit versucht, die Einflusssphären in dem vom Bürgerkrieg erschöpften Land abzugrenzen. Möglicherweise hat Erdogan damals Putin versprochen, zu helfen, das Blutvergießen in Idlib und Aleppo zu beenden.

Angesichts der heutigen neuen Realität, wo Assad, der Präsident der SAR, 90 Prozent seines Staatsgebiets wieder kontrolliert, widerspricht die Anwesenheit der Türken im Nordosten Syriens den Plänen von Damaskus und Moskaus. Aber was einmal vereinbart wurde, holt sich Erdogan. Die Pläne Erdogans, nicht nur den Vorort Tell Rifat, sondern auch Aleppo einzunehmen, sollten ernst genommen werden. Die Nachrichtenagentur Reuters berichtete unter Berufung auf zwei hochrangige Beamte der türkischen Regierung: „Die Türkei bereitet sich, falls die diesbezüglichen Verhandlungen mit den USA und Russland scheitern, auf mögliche weitere Militäraktionen gegen die von den USA unterstützten kurdischen Milizen in Nordsyrien vor.“ Reuters-Insider weisen auch auf die Ursache der Militäroperation Erdogans hin: Von Tell Rifat aus sollen YPG-Kämpfer angeblich einen türkischen Außenposten nahe der syrischen Stadt Marea überfallen und zwei türkische Soldaten getötet haben. Ankara besteht darauf, dass dies das Werk der Kurden war und nicht der „Hayat Tahrir al-Sham“-Banden. „Es ist zwingend erforderlich, dass die Gebiete, insbesondere Tell Rifat, aus denen wir ständig angegriffen werden, geräumt werden“, sagte ein hochrangiger türkischer Beamter.

Die Türkei wird ihre Operation starten, wenn Ankaras diplomatische Bemühungen die kurdischen Streitkräfte nicht zwingen können, sich weitere 30 Kilometer von der aktuellen Frontlinie zurückzuziehen. Reuters geht davon aus, dass Erdogan vor dem Angriff auf die Stadt Tell Rifat Anrufe an Putin und Biden mit deutlichen Anzeichen eines Ultimatums richten wird.

Als Reaktion auf die türkischen Vorbereitungen warfen russische Militärflugzeuge am 16. Oktober, ebenfalls am späten Abend, Flugblätter über den türkisch besetzten syrischen Städten Marea und Azaz ab, mit einer unmissverständlichen Warnung wegen der Unzulässigkeit jeglicher Angriffe auf das Gebiet im Norden von Aleppo.

Laut dem „Südfrontportal“ wurden die von russischen Flugzeugen abgeworfenen Flugblätter vom Oberkommando der syrisch-arabischen Armee gedruckt. Dort heißt es: „Ihr Terroristen der „Hayat Tahrir al-Sham“ kämpft für einen kleinen Geldbetrag, während eure Anführer Fabriken und Anlagen demontieren und an Erdogans Makler verkaufen, Firmen und Institutionen plündern, die von den Bürgern gebaut wurden und die sie mit ihrem Schweiß und Essen für ihre Kinder bezahlt haben ... Wachet auf, für euer Volk und euer Land... Aleppo wird ganz sicher in den Händen seiner Bürger bleiben.“

Die SAR-Medien schreiben, Assads Regierungstruppen und das russische Militär seien zum Gegenschlag entschlossen. Auch die US-Offiziere, die Berater der YPG sind, bereiten sich darauf vor, den Angriff der Erdogan-Krieger abzuwehren. Ironie des syrischen Krieges: Die Russen und Amerikaner werden zu Verbündeten. Der Nahe-Osten ist wahrlich eine heikle Angelegenheit.

Im Bereich der zu erwartenden Konfrontation werden zusätzliche Assad-Truppen zusammengezogen, die sich gemeinsam mit den YPG-Einheiten darauf vorbereiten, den Angriff der türkischen Truppen abzuwehren. Auch T-90-Panzer, BMP-2-Infanterie-Kampffahrzeuge, BM-21-Mehrfachraketensysteme und 2S1-„Gwosdika“-Panzerhaubitzen werden in die Gebiete Tell Rifat und Manbij verlegt. Als Reserve wurde die 4. SAA-Division in der Nähe stationiert, die vom russischen Kommando in Syrien aufgestellt und vorbereitet wurde. Ankaras derzeitiger Versuch, Aleppo zu erobern, wird auf starken Widerstand, auch von der Russischen Föderation und den Vereinigten Staaten stoßen. Es besteht kein Zweifel, dass weder Putin noch Biden die Ultimaten Erdogans akzeptieren werden.

 

(Quelle: Sitnikov, A., Swobodnaja Pressa, 18.10.21, redaktionell bearbeitete Übersetzung)

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