DIE OHNMACHT DER ZIVILVERTEIDIGUNG (Teil 1)

Ohnmacht der Zivilverteidigung
Quelle: Collage tvnva, Archiv tvnva

Konzeption Zivile Verteidigung (KZV)

Seit August 2016 gilt die im Bundesministerium des Innern (BMI) erarbeitete „Konzeption Zivile Verteidigung (KZV)“ als „konzeptionelles Basisdokument“ für die Koordination der Aktivitäten des Bundes zur Vorbereitung auf den Verteidigungszustand – mithin auf einen Krieg. Die Lektüre lohnt sich, wenn man erfahren will, mit welchen existenziellen Gefährdungen der Bevölkerung und der Infrastruktur die Experten des BMI rechnen und wie die Bundesrepublik aktuell auf einen Krieg vorbereitet wird. Denn das Dokument wird ausdrücklich als ziviles Gegenstück zur Konzeption der Bundeswehr (KdB) bezeichnet /1/. Die Zivile Verteidigung „hat die Aufgabe, alle zivilen Maßnahmen zu planen, vorzubereiten und durchzuführen, die zur Herstellung und Aufrechterhaltung der Verteidigungsfähigkeit einschließlich der Versorgung und des Schutzes der Bevölkerung erforderlich sind.“/2/ Militärische und zivile Verteidigung seien „gleichrangige, jedoch organisatorisch voneinander unabhängige Komponenten der Gesamtverteidigung“/3/. Damit sind die durch die Bundesregierung zu realisierenden Vorbereitungen auf den Kriegszustand zugleich Bestandteil der NATO-Planungen und der für deren Umsetzung geschaffenen Strukturen /4/.

Unter dem von Politikern und Militärs immer wieder gerne bemühten Stichwort der Landes- und Bündnisverteidigung erfolgt nicht nur die Aufrüstung der Bundeswehr und die Vorbereitung des deutschen Staatsgebietes für die logistische Absicherung des NATO-Aufmarsches gegen Russland, sondern auch die Ertüchtigung der Zivilschutzkräfte und der Infrastruktur für den Fall von Kriegshandlungen. Dass die diversen Notfallübungen der deutschen Zivilschutzorganisationen nicht in erster Linie dazu dienen, bei zivilen Katastrophen oder möglichen terroristischen Anschlägen handlungsfähig zu sein, verdeutlichen Aussagen des Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses des Bundestages, Wolfgang Hellmich, in der Zeitschrift Europäische Sicherheit und Technik: „Um auf die heutigen hybriden Sicherheitsrisiken reagieren zu können, ist ein gesamtstaatliches, umfassendes und abgestimmtes Sicherheitskonzept erforderlich, welches politische und diplomatische Initiativen genauso umfasst, wie wirtschaftliche, entwicklungspolitische, polizeiliche, humanitäre und militärische Maßnahmen. Wenn wir von Verteidigung sprechen, ist die Zivilverteidigung neben der militärischen Verteidigung unverzichtbarer Teil der Gesamtverteidigung.“ Solche Einsatzszenarien müssten geübt werden und es sei notwendig, im Bereich der Zivilverteidigung mehr zu tun, denn die entsprechenden Strukturen auf Länder- und kommunaler Ebene seien nach dem Ende des Kalten Krieges aufgelöst worden. Ressourcen, Wissen, Strukturen und Organisationselemente seien so verloren gegangen und müssten neu geschaffen werden. „Um glaubhaft Abschreckung und Verteidigung zu gewährleisten, werden auch umfangreiche Maßnahmen im Rahmen der Zivilverteidigung notwendig sein.“ /5/

Schwerpunkt Kriegsfall

Diese Äußerungen und der Text der KZV verdeutlichen erstens, dass deutsche Politiker und Militärs bei ihrer Gefährdungsanalyse trotz des Verweises auf möglicheTerrorattacken den Schwerpunkt auf Konzepte für den Fall eines Krieges legen. Zweitens wird deutlich, dass die Behauptung, Deutschland sei in einem künftigen Krieg nicht durch unmittelbare Kriegshandlungen gefährdet, sondern „nur“ Hinterland und Logistikdrehscheibe für die NATO-Truppen,unsinnig ist, auch wenn das manche Militärs und Politiker ständig wiederholen./6/

Die Gefährdungsanalyse und die Vorgaben der KZV belegen hingegen indirekt, mit welchen verheerenden Folgen die deutsche Zivilbevölkerung im Falle eines großen Krieges im Osten rechnen müsste. Luftwaffen- und Raketenschläge gegen militärische Versorgungseinrichtungen, Transportwege, Industrieanlagen und gegen die kritische Infrastruktur der Bundesrepublik würden aus unserem Land eine unbewohnbare Wüste machen.

Allein der Einsatz der hochmodernen russischen Iskander-Raketen würde zu unkalkulierbaren Folgen führen. Das System der Boden-Boden-Raketen des Typs Iskander wurde unter anderem dafür konzipiert, den US-Anti-Raketenschirm in Europa zu durchdringen. Als Antwort auf die Stationierung von Elementen des amerikanischen Raketenschilds in Polen und Rumänien hat Russland Iskander-Systeme in Gebiet Kaliningrad und auf der Halbinsel Krim stationiert.

Reichweite Iskander-M Raketen

Um eine einzige Iskander-Rakete sicher im Flug zu vernichten, müssten bis zu elf Patriot-Raketen abgefeuert werden. Die Herstellung der Feuerbereitschaft für eine Iskander-Batterie beträgt vier Minuten. Eine Iskander-Brigade ist in der Lage, während eines Einsatzes 48 Raketen zu verschießen./7/

Die Raketen der derzeit in der russischen Exklave Kaliningrad stationierten Iskander-M-Systeme (9M723 und 9M723TL) können mit Splitter-Spreng- und Penetrations-Gefechtsköpfen gegen verbunkerte Anlagen, sogenannten Bomblets mit Splitter- oder Brandwirkung, mit nichtnuklearen elektromagnetischen Impuls-(EMP)Gefechtsköpfen, nuklearen Gefechtsköpfen mit einer Sprengkraft von fünf bis 50 Kilotonnen des Typs AA-86 oder mit nuklearen Ladungen von 100 bis 200 Kilotonnen des Typs AA-92 bestückt werden. Die Einsatzreichweite der Raketen beträgt knapp 500 Kilometer /8/. Damit würde der nordöstliche Teil der Bundesrepublik einschließlich der Hauptstadt Berlin im Wirkungsbereich dieser russischen Raketen liegen. Die Flugdauer bis zum Einschlag im Ziel beträgt zwei Minuten. Gleiches gilt übrigens für die NATO-Battlegroups in Estland, Lettland, Litauen und Polen sowie für jene US-Truppen, die laut dem 2020 zwischen Polen und den USA abgeschlossenen Abkommen „Zur verstärkten Verteidigungszusammenarbeit“ dauerhaft in Polen für einen Krieg gegen Russland stationiert werden sollen.

Waffenwirkung

Und diese hocheffizienten Kernwaffeneinsatzmittel wären im Kriegsfall nur ein Element von vielen im breiten Spektrum russischer nuklearer Verteidigungsoptionen. Die Risiken für Soldaten und Zivilisten sind den Militärs und Politikern im Westen durchaus bekannt. Schon die Detonation eines Sprengkopfes mit einer Stärke von 10 Kilotonnen TNT-Äquivalent würde zu folgenden Wirkungen im Zielgebiet führen: Straßen in einem Radius von 70 Metern würden unpassierbar, bis 800 Meter schwer und bis 1.800 Meter leicht zerstört werden. Mit Behinderungen des Transports von Truppen wäre bis auf eine Entfernung von 2.800 Metern zu rechnen. Kampfpanzer würden im Radius von bis zu 200 Metern, Schützenpanzer bis 460 Meter und LKW bis 550 Meter völlig vernichtet. Gebäude im Umkreis von 400 Metern würden total zerstört, bis 900 Meter weitgehend und bis 2.400 Meter mäßig beschädigt werden. Die durch die Explosion des 10-Kilotonnen-Sprengkopfes ausgelöste Druckwelle könnte Nadelwälder im Umkreis von 1.000 Metern völlig unpassierbar machen. Straßenbäume würden noch in einer Entfernung von 1.300 Metern vom Explosionszentrum abgeknickt werden. Die direkte Hitzestrahlung der Explosion würde in Städten im Radius von 2.600 Metern Primärbrände und durch die Entzündung von Gasleitungen und Chemikalien Sekundärbrände bis zu einer Entfernung von 3.600 Metern auslösen. Kraftwerke, vor allem auch AKW, Gaswerke und Stromleitungen würden durch die nuklearen Detonationen zerstört werden und würden so die Vernichtungswirkung potenzieren.

Raketensystem ISKANDER-M

Soldaten und Zivilisten würden durch die Strahlung in einer Entfernung von 800 Metern vom Explosionsort getötet und noch in 1.000 Meter Entfernung akut geschädigt. Wer sich weniger als 1.400 Meter vom Explosionsort entfernt aufhält, würde Verbrennungen dritten Grades davon tragen. Selbst in einem Abstand bis 1.800 beziehungsweise 2.100 Metern wäre mit Verbrennungen zweiten und ersten Grades zu rechnen.Bei Einsatz einer Kernsprengladung mit einer Stärke von zehn Kilotonnen TNT-Äquivalent werden Personen auch durch die dabei auftretende Primärstrahlung massiv geschädigt. Personen, die sich beispielsweise ungeschützt im Abstand von 1.200 Metern vom Detonationszentrum befinden, nehmen eine Sofortkernstrahlungsdosis von 400 bis 600 Röntgen auf. Dadurch kommt es bereits am ersten Tag zu Erbrechen, Atemnot und Durchfällen (schwere Schädigungen dritten Grades). Die Kampffähigkeit von Soldaten ist bei der Aufnahme von 500 Röntgen bereits innerhalb der ersten Stunde nach derDetonation nicht mehr gegeben. Die Mehrzahl der Verstrahlten bleibt funktionell gestört. Nach einer relativ kurzen Erholungsperiode von zwei bis fünf Tagen kommt es bei diesem Grad der Schädigung zu Kräfteverfall, Schläfrigkeit, blutigem Stuhl, Krämpfen, Angina, stark ausgeprägter Blutungsneigung, starkem Haarausfall und Kurzatmigkeit. Ohne Therapie tritt der Tod zwischen dem achten und dem 25. Tag nach der Strahlungsaufnahme ein. Bei medizinischer Betreuung bestehen geringfügige Überlebenschancen. Allerdings wird bei Kernstrahlungsdosen ab 600 Röntgen ein Überleben der Betroffenen für unwahrscheinlich gehalten. Und dass im Krieg bei der ungeheuren Anzahl von Strahlungsopfern eine mehr als rudimentäre medizinische Versorgung möglich wäre, ist zu bezweifeln.Hinzu kommt, dass verstrahlte Soldaten und Zivilisten nicht nur durch die Kernstrahlung, sondern auch durch andere Verletzungen, etwa Schusswunden und Verbrennungen, geschädigt werden würden, was die Überlebenschancen der Opfer weiter verringert würde. Auch Trinkwasser und Nahrungsmittel für die Truppen und die Bevölkerung wären kontaminiert. Schon bei einer Strahlungsaufnahme von 225 Röntgen sind bei Kampftruppen innerhalb von zwei Tagen Ausfälle in Höhe von 30 Prozent zu erwarten./9/

 

Schlussfolgerungen:

Wenn Deutschland in einem militärischen Konflikt zum Zielgebiet für Massenvernichtungsmittel und zur Kampfzone eines modernen Bewegungskrieges würde, wären alle derzeit vorgesehenen Maßnahmen der Zivilverteidigung absolut unzureichend.

  • Von staatlicher Seite wären keine wirksamen Hilfsmaßnahmen zu erwarten.
  • Das deutsche Territorium würde zum Kampfgebiet.
  • Die Waffenwirkung würde zur vollständigen Vernichtung der Infrastruktur führen.

 

Quellen:

/1/ Bundesministerium des Innern. Konzeption Zivile Verteidigung (KZV) vom 24.08.2016. S. 8

/2/ a.a.O. S. 9

/3/ a.a.O. S. 8

/4/ a.a.O. S.11

/5/ Europäische Sicherheit und Technik. 5/20

/6/ Die Bundeswehr 12/19, S. 8

/7/ Rudolph, R., Markus, U.: Die Rettung der Krim. Berlin 2017. S. 231ff.

/8/ a.a.O. S 231ff.

/9/ Hoffmann, M.: Kernwaffen und Kernwaffenschutz. Berlin 1987, S. 197ff., S. 316ff.

 

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