Afghanen flüchten aus Afghanistan

100.000 Afghanen sind bereit, nach Tadschikistan zu flüchten

In den letzten Monaten haben die Taliban 200 von 398 Distrikten des Landes unter ihre Kontrolle gebracht, etwa 90 Prozent der Grenzen Afghanistans sind unter ihrer Kontrolle, vollständig die Grenze zu Tadschikistan und zum größten Teil auch die zu Usbekistan. Diese Angaben wurden am 23. Juli 2021 von weltweit führenden Nachrichtenagenturen unter Berufung auf den stellvertretenden Leiter des Politbüros der Taliban, Mawlavi Abdul Salam Hanafi, verbreitet. Die Meinung des Kabuler Fernsehsenders Tolo News ist, dass die Flüchtlingssituation im Land den Charakter einer humanitären Katastrophe annimmt. Mit Verweis auf das Innenministerium Afghanistans berichtet der Sender, dass allein in den letzten vier Monaten 36.000 afghanische Familien ihre Heimat verlassen mussten. Und das sind einige hunderttausend Menschen.

Und anscheinend steht dieser erschreckende Lawinenprozess erst am Anfang. Anfang der 2000er Jahre, als 95 Prozent des Territoriums dieses Staates unter der Kontrolle der Taliban standen, ging der Flüchtlingsstrom hauptsächlich in den benachbarten Iran und nach Pakistan. Die ehemaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens waren damals für Afghanen weniger attraktiv. Anfang der 2000er Jahre flüchteten nur etwa tausend Afghanen nach Tadschikistan. Der tadschikische Politikwissenschaftler Mamadazimov erklärt das mit den Besonderheiten des Denkens der afghanischen Gesellschaft, die Tadschikistan in der jüngeren sowjetischen Vergangenheit als ein Land der „Ungläubigen“ bezeichnete. Und diese tausend Menschen nutzten Tadschikistan größtenteils als Sprungbrett für die Weiterreisen in Drittländer, nach Europa und Nordamerika.

Darauf aufbauend äußerte Mamadazimov kürzlich die Hoffnung, dass auch heute nur wenige afghanische Bürger in sein Land kommen. Aber die Realität hat diese Vorhersagen des angesehenen zentralasiatischen Wissenschaftlers zunichte gemacht. Am 23. Juni gab der stellvertretende Leiter des Komitees für Notsituationen (CES) von Tadschikistan, Emomali Ibrohimzoda, völlig unerwartet bekannt, dass sich sein Land diesmal auf die Aufnahme von mindestens 100.000 Flüchtlingen aus Afghanistan vorbereitet. Für sie entstehen auf den Truppenübungsplätzen der tadschikischen Armee in der Region Kushonien, im Süden des Landes, und in der Region Khatlon, in der Nähe der Stadt Khorog, Auffanglager. Dort werden mit dem Geld einiger ungenannter internationaler Organisationen hastig zwei große Speziallager mit Bettzeug, Hygieneartikeln und Lebensmitteln eingerichtet. Diese Maßnahmen werden durch zwei Umstände beeinflusst. Erstens scheinen die Iraner überhaupt nicht bereit zu sein, wieder eine neue, mehrere Millionen Dollar schwere Flüchtlingslawine aus dem ständig kriegerischen Nachbarland aufzunehmen. Außerdem sind die meisten Flüchtlinge Komplizen und Helfer der verhassten USA. Die iranischen Grenzschutzbeamten verhalten sich angesichts ihrer eigenen Erfahrungen gegenüber diesen Menschen recht grob. So eröffneten im vergangenen Juni an einem Kontrollpunkt in der iranischen Stadt Yazd Soldaten das Feuer auf ein Auto mit Afghanen. Der offizielle Grund war, dass das Auto nicht zur Inspektion angehalten hat. Das Auto brannte ab, seine Passagiere wurden getötet und verwundet. Zwischen Kabul und Teheran war deshalb ein diplomatischer Skandal ausgebrochen. Einen Monat zuvor hatte sich eine ähnliche Tragödie am Fluss Tejen ereignet. Dort sind viele afghanische Migranten gestorben, als sie versuchten, die gemeinsame Grenze zum Iran in der Region Herat zu überschreiten. Dem Bericht einer afghanischen Sonderarbeitsgruppe zufolge wurden am Tatort 12 Leichen afghanischer Bürger gefunden, mehr als zehn Menschen blieben vermisst. Nur 17 illegalen Einwanderern gelang die Rettung. Schuld an allem, glaubt Kabul, sei die Brutalität der iranischen Grenzsoldaten.

In tadschikischer Richtung sieht es bisher etwas anders aus. Allein in diesem Monat hat Tadschikistan bereits über 1.500 Flüchtlinge aus Afghanistan aufgenommen. Sie erhielten die notwendige medizinische Hilfe. Für sie wurden Zelte aufgebaut und sie wurden mit drei warmen Mahlzeiten am Tag, Bettzeug und Küchenutensilien versorgt. Nach einer gewissen Zeit wurden alle Flüchtlinge jedoch mit elf Charterflügen in ihre Heimat, in die Städte Kabul und Mazar-i-Sharif, zurückgebracht. Doch wozu braucht man nun die in großer Eile errichteten Flüchtlingslager in Tadschikistan? Woher hat dieses absolut verarmte Land plötzlich soviel Geld für eine solche Gastfreundschaft für eine große Anzahl von Menschen, die sich vor dem fast unvermeidlichen Tod  retteten?

Es gibt Grund zu der Annahme, dass auf Drängen und mit Finanzierung durch die Vereinigten Staaten diese Lager in Tadschikistan errichtet werden. Die Amerikaner, die Afghanistan im Eiltempo verließen, sind gezwungen, ein heikles Problem zu lösen. Sie müssen etwas tun, um jenen Bürgern Afghanistans zu helfen, die sie seit zwanzig Jahren im Kampf gegen Extremisten unterstützten. Manche halfen aus ideologischen Gründen, manche aus Geldgründen. Und jetzt haben die Taliban sie zu Kollaborateuren erklärt und drohen, sie ohne Gerichtsverfahren oder Ermittlungen zu töten. An manchen Orten geschieht das schon. Wenn das drohende Massaker Wirklichkeit wird, wird den USA nach der Flucht aus Afghanistan ein neuer internationaler politischer Schlag versetzt. Auch Präsident Joseph Biden muss damit rechnen. Kürzlich stellte er 100 Millionen Dollar für die Evakuierung der Bürger Afghanistans bereit, die den amerikanischen Truppen verschiedene Hilfen und Unterstützungen leisteten. Das tat er vor allem, um den Forderungen der genannten Kategorie von Bürgern Afghanistans nach speziellen Einwanderungsvisa in die  Vereinigten Staaten zu entgegnen. „Solche Hilfe kann je nach den Umständen auf bilateraler oder multilateraler Basis geleistet werden, unter anderem durch Beiträge an internationale Organisationen und durch die Finanzierung anderer Nichtregierungsorganisationen sowie US-amerikanischer Ministerien und Agenturen“, heißt es auf der Website des US-Außenministers Anthony Blinken.

Wie viele Afghanen will Washington mit einem begehrten Visa der USA beglücken? Das US-Außenministerium sagt: nicht mehr als 2500 Menschen. Doch nach westlichen Medienberichten beanspruchen heute nicht weniger als 18.000 ehemalige „Freunde“ des amerikanischen Militärs eine solche Gnade. Zuallererst geht es um die Übersetzer, die dem amerikanischen Geheimdienst geholfen haben, einschließlich während der Verhöre der gefangenen Taliban. Wenn diese Menschen im letzten Moment keine Zeit hatten, durch die USA gerettet zu werden, sind sie zu einem qualvollen Tod verdammt. Das gleiche Schicksal erwartet nach lokalem Brauch auch ihre Familienmitglieder. Dies sind nicht weniger als 53.000 Menschen. Und nach Schätzungen von Washington muss in diesem Fall über insgesamt mindestens 100.000 afghanische Bürger geredet werden. Informationen des US-Außenministeriums zufolge sollen die Flüchtlinge zuerst entweder auf eine ausländische US-Militärbasis oder in ein Drittland geschickt werden, wo sie sicher sind, während ihr Visumantrag bearbeitet wird.

Vergleicht man das mit der angekündigten Kapazität zukünftiger Lager in dem „Drittland“ Tadschikistan, so kann das kein Zufall sein. Die Amerikaner werden versuchen, ihre ehemaligen „freiwilligen Helfer“ mit ihren Familienmitgliedern in der ehemaligen Sowjetrepublik unterzubringen. Dann ist es Duschanbe, das sich einen bedeutenden Anteil von den 100 Millionen Dollar holen kann, die Biden großzügig für die Evakuierung seiner afghanischen Mitarbeiter bereitgestellt hat. Einfach viel Geld für Tadschikistan, das buchstäblich vom Himmel fällt. Denn wie es der Gastgeber benutzt und einsetzt, ist Sache des souveränen Tadschikistan.

Für Russland ist es jedoch nicht gleichgültig: Was sind das für Flüchtlinge? Sind es nur unglückliche Menschen, die über Nacht alles verloren haben? Oder werden einige der Flüchtlinge mit ganz bestimmten Aufgaben der US-Sonderdienste auf das Territorium der ehemaligen UdSSR geschickt? Zum Beispiel, um religiöser Propaganda eine bestimmten Ausrichtung in Zentralasien zu geben? Oder Ausschreitungen zu provozieren, die angesichts des niedrigen Lebensstandards der Bevölkerung Tadschikistans und des politischen Erbes des blutigen und langjährigen Bürgerkriegs, der vor wenigen Jahrzehnten erst endete, leicht zu verursachen sind? „Wir können behaupten, dass mindestens ein Drittel von ihnen Angeworbene aus radikalen Gruppen, professionelle Provokateure und anderer Abschaum sein werden, die sofort subversive Aktivitäten beginnen werden“, schrieb ein anonymer KGB-Veteran in Sputnik Tadschikistan.

Es gibt noch einen anderen Umstand, der Russlands Befürchtungen verstärkt. Erinnert man sich noch, wie Recep Erdogan den Faktor der Existenz von 3,7 Millionen syrischen Flüchtlingen in der Türkei geschickt in seinem Kampf um einen Platz in der Europäischen Union genutzt hat? Unter dem Vorwand, diese Anzahl sei für sein Land unerträglich, kündigte er im Februar 2020 an, die Grenzen seines Landes für Flüchtlinge auf dem Weg nach Westeuropa zu öffnen. Erdogan, der die angesammelten Millionen von Flüchtlingen geschickt als politische Waffe benutzte, hatte danach vom verängstigten Westen bekommen, was er wollte. Denn nach und nach löste sich dieses Problem auf. Der von Ankara gebaute Damm stürzte nicht vollständig ein. Aber vielleicht wartet Erdogan auf eine neue, für ihn günstige Stunde.

Wahrscheinlich kann sich diese Geschichte im Lichte der Ereignisse, die sich in Zentralasien abspielen, bald auch für Russland als lehrreiche Lektion erweisen. Denn damit die afghanischen Flüchtlinge aus Tadschikistan nach Russland strömen, müssen die Grenzen zu Usbekistan, Kirgisistan und Kasachstan nicht einmal geöffnet werden. Denn die Grenzen dort existieren einfach nicht. Zwischen den ehemaligen Bruderrepubliken gibt es gewissermaßen keine Grenzposten, Kontrollstreifen, Beobachtungstürme und Drohnen oder andere Kontroll- und Beobachtungsgeräte. An den Hauptverkehrswegen werden nur selten Kontrollpunkte errichtet und Passkontrollen vorgenommen. Denn diese Grenzen waren interne Verwaltungslinien innerhalb der einst vereinten Sowjetunion. Seit der Auflösung der SU, hat sich Moskau leider nicht die Mühe gemacht, an der Sicherheit der Grenzen zu den zentralasiatischen Republiken etwas zu ändern.

Allein zwischen Kasachstan und Russland beträgt die Länge der Staatsgrenze mehr als 7.500 Kilometer. Um diese Linie so zuverlässig zu schließen, wie es beispielsweise entlang der Grenze mit Finnland oder Norwegen getan wurde, sind undenkbare Ressourcen erforderlich. Das russische Tor stehen buchstäblich weit offen. Infolgedessen kann man heutzutage zum Beispiel auf einem Esel von irgendwo aus Kulyab oder Taschkent durch Kasachstan sicher auf der Straße bis zum russischen Rjasan, sogar bis nach Moskau selbst trotteln.

Man kann sich vorstellen, welche Chance Tadschikistan bald für eine mögliche Erpressung Russlands haben könnte. Zumindest um Finanzierungen aus Moskau zu günstigen Bedingungen zu erhalten. Im Allgemeinen können sich die Flüchtlingslager in Afghanistan in vielerlei Hinsicht als sehr geschickt getarnte amerikanische „Minen“ gegen Russland erweisen. Die UNO schätzt, dass seit 2001 zwischen 2,8 und 5,5 Millionen Menschen aus Afghanistan geflohen sind. Die Hauptrichtungen ihrer Bewegung waren Pakistan, der Iran (die Angaben zur Zahl der Flüchtlinge in diesen Ländern variieren stark), die Vereinigten Arabischen Emirate und die Staaten Europas, hauptsächlich Deutschland. Gleichzeitig wird laut Eurostat im Durchschnitt jeder neunte Asylantrag in der EU von Afghanen gestellt (im letzten Jahr: 44.000 von 416.000).

 

Quelle: Ischenko, S., Swobodnaja Pressa, 26. Juli 2021 (redaktionell bearbeitete Übersetzung)

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